In der Bewertungspraxis finden sich regelmäßig Unternehmenswerte, denen keine Ausschüttungsplanung zugrunde liegt. Statt geplanter Rückflüsse an die Eigenkapitalgeber bleibt die Ausschüttungsreihe durchgehend bei null. Ein Widerspruch zur zentralen Idee, dass der Unternehmenswert dem Barwert künftiger Zahlungsströme an die Eigentümer entspricht.
Gleichzeitig steigen durch Gewinnthesaurierung die Kassenbestände stetig an, bis sich die Netto-Finanzverbindlichkeiten in eine Netto-Liquiditätsposition umkehren. Diese Entwicklung wirft die Frage auf, ob durch eine implizit unterstellte Ausschüttungsverweigerung systematisch Bewertungsfehler entstehen.
Zudem misst die finanzwirtschaftliche Literatur der Ausschüttungsplanung eine hohe Bedeutung bei, etwa im Rahmen der Ausschüttungsfähigkeit, Kapitalstruktur oder Governance-Implikationen. Umso erstaunlicher ist es, dass sie in vielen Bewertungsmodellen schlicht ignoriert wird.
Allerdings zeigt die Praxis auch Gegenbeispiele: In Leveraged-Buyout-Transaktionen oder bei Non-Profit-Organisationen gelten Bewertungen ohne Ausschüttungsperspektive als marktüblich. Hier dient der Free Cashflow primär der Schuldentilgung bzw. dem gemeinnützigen Zweck, nicht der Rendite. Das stellt die Frage, ob und wann fehlende Ausschüttungsplanungen dennoch sachgerecht sind oder ob sie eher Ausdruck eines modelltechnischen Kurzschlusses sind.
Vergleichsfall: Bewertung mit und ohne Ausschüttungsplanung
Am klarsten zeigen sich die Auswirkungen einer fehlenden Ausschüttungsplanung in einem direkten Bewertungsvergleich. Einmal unter der Annahme vollständiger Thesaurierung, einmal mit aktiver Ausschüttungspolitik.
Im ersten Schritt wird eine integrierte Unternehmensplanung mit einer konstanten Ausschüttungsquote von 0 % modelliert. Zur Vereinfachung gelten die liquiden Mittel als unverzinst und werden als nicht betriebsnotwendig klassifiziert. Sie sind dem operativen Geschäft folglich nicht zuzurechnen, sondern werden bilanziell und funktional dem Finanzbereich als stille Reserve bzw. Puffer ohne operative Relevanz zugeordnet.
Die implizite Annahme: Alle erwirtschafteten Überschüsse verbleiben dauerhaft im Unternehmen, ohne dass ein konkreter Verwendungszweck (z. B. Investition, Ausschüttung oder Entschuldung) vorgesehen ist. Genau hier liegt das Risiko verzerrter Werteinschätzungen.
Thesaurierung führt zur Kassenüberhöhung
Wie zu erwarten, führt die vollständige Thesaurierung der Cashflows zu einem stetigen Kassenaufbau: Bereits in den ersten Planjahr übersteigen die liquiden Mittel die gesamten Finanzverbindlichkeiten, einschließlich Bank- und Gesellschafterdarlehen, Pensionsrückstellungen sowie Leasingverbindlichkeiten.
Bis zum letzten Planjahr wächst die nicht betriebsnotwendige Liquiditätsreserve weiter deutlich an, da die operativen Überschüsse, abgesehen von den vertraglich vorgesehenen Zins- und Tilgungsleistungen, vollständig im Unternehmen verbleiben. Ein wirtschaftlich sinnvoller Kapitalverwendungspfad ist in der Planung nicht erkennbar.
Bewertung ohne Ausschüttung: Substanz wächst, Kapitalstruktur kippt
Die bewertungsrelevanten Free Cashflows (FCFs) werden wie üblich mit dem gewichteten Kapitalkostensatz (WACC – Weighted Average Cost of Capital) diskontiert. Dabei passt sich der WACC dynamisch an die jährlich veränderte Kapitalstruktur an: Da sich das Unternehmen sukzessive entschuldet, nimmt der Anteil des Eigenkapitals (im Vergleich zum Fremdkapital teureren) zu. Infolgedessen steigt der WACC im Zeitverlauf moderat.
Trotz fehlender Ausschüttungen wird ein positiver Eigenkapitalwert („Equity Value“) zum Bewertungsstichtag ermittelt. Der Grund: Bewertet werden nicht die tatsächlich ausgeschütteten Beträge, sondern die potenziell ausschüttbaren Überschüsse. Diese Bewertungslogik erklärt, warum auch bei vollständiger Thesaurierung ein positiver Equity Value resultiert.
Bewertung mit Ausschüttung: Cash statt Kasse
Das Vergleichsszenario basiert auf derselben operativen Planung (GuV unverändert), ergänzt um eine systematische Ausschüttungspolitik: Am Ende jedes Jahres wird die jeweils nicht betriebsnotwendige Kasse vollständig an die Eigenkapitalgeber ausgeschüttet. Die liquiden Mittel fallen dadurch zum Bilanzstichtag auf null, es verbleibt kein Liquiditätspuffer im Unternehmen.
Bilanz, Cashflow-Rechnung und Unternehmenswert verändern sich spürbar: Die Free Cashflows werden nun tatsächlich ausgeschüttet, nicht nur thesauriert. Dadurch verschiebt sich auch der Charakter der Mittelverwendung vom passiven Liquiditätsaufbau hin zur aktiven Rückführung an die Eigentümer.
Gleicher Unternehmenswert – aber abweichende Kaufpreise
Die Bewertungsergebnisse der Szenarien mit und ohne Ausschüttung zeigen identische Enterprise Values, also identische Werte des operativen Geschäfts vor Berücksichtigung der Finanzierungsstruktur. Die Equity Values hingegen unterscheiden sich deutlich. Der Grund: Die zugrunde liegenden Netto-Finanzpositionen weichen stark voneinander ab. Im einen Fall enthält die Planung eine hohe Liquiditätsreserve, im anderen Fall wurde diese regelmäßig ausgeschüttet.
Addiert man zu dem im Ausschüttungsszenario ermittelten Equity Value die kumulierten Ausschüttungen ergibt sich wieder der identische Unternehmenswert. Diese rechnerische Identität verdeutlicht: Die Bewertung bewertet nicht den Ort des Geldes, sondern seinen wirtschaftlichen Anspruch.
Denn: Nicht ausgeschüttete Gewinne verbleiben im Unternehmen und damit im Kaufobjekt. Ein Erwerber erhält in diesem Fall Zugriff auf die thesaurierten Mittel und ist entsprechend bereit, einen höheren Kaufpreis zu zahlen. Im Gegenzug sinkt der Equity Value, wenn vor der Transaktion eine Sonderausschüttung erfolgt und die Liquiditätsposition abgebaut wird bei gleichzeitigem Anstieg der Netto-Finanzschulden.
Diese Logik erklärt auch die regelmäßig geführten Diskussionen in M&A-Prozessen: Soll der Verkäufer vor Signing/Closing noch eine Ausschüttung vornehmen oder fließen die Mittel dem Käufer zu? Die Beantwortung dieser Frage hat direkte Auswirkungen auf die Kaufpreislogik und die Verhandlungsdynamik.
Bewertungsneutral, aber kaufpreisrelevant
Ausschüttungen verändern nicht den Enterprise Value, den eigentlichen Unternehmenswert aus Sicht der operativen Geschäftstätigkeit. Sie haben jedoch einen direkten Einfluss auf die Netto-Finanzposition und damit auf den Equity Value, der als Grundlage für die Kaufpreisermittlung dient.
Der Zusammenhang: Jede Ausschüttung reduziert die Liquidität im Unternehmen und erhöht die Netto-Finanzschulden. Damit verschiebt sich die sogenannte Equity Bridge, also die rechnerische Überleitung vom Unternehmenswert zum Kaufpreis.
Gerade im Vorfeld einer M&A-Transaktion ist daher die präzise Definition und zeitliche Abgrenzung der Netto-Finanzverschuldung im Kaufvertrag essenziell, insbesondere bei geplanten Sonderausschüttungen. Denn ob das thesaurierte Kapital beim Verkäufer bleibt oder dem Käufer zufließt, ist keine Bewertungsfrage, sondern eine Preisfrage.